Hinter geschlossenen Lidern

Tag- und Nachtträume sind im vierten Monat kaum mehr voneinander zu trennen. Hinter geschlossenen Lidern tanzen Haarsträhnen. Süßlocken begegnen sich in stetem Reigen, kringeln und umschlingen sich, lösen sich mit der nächsten Drehung wieder voneinander – ein Haargestöber, dazu der Klang eines auf dem Cembalo gespielten Menuettes. Selbst das Muster auf dem Duschvorhang, ein stilisierter Fingerprint, scheint sich aus Haarsträhnen zusammenzusetzen. Vielleicht hat sich meine Netzhaut in ein Haarnetz verwandelt und projiziert nun unentwegt Muster auf die Sehfläche hinter den geschlossenen Lidern – als gälte es eine neue Tapete für die Weltsicht zu kaufen.
Von den behaarten Nachtträumen kann ich mich nur an einen deutlich erinnern. Aus den Müllbeuteln der Friseure hatte ich schwarzes Haar geborgen – ein voluminöses Gewirr mit der Haptik von Drahtwolle. Vielleicht könnte man sogar die Spüle oder Bratpfanne mit einer Handvoll dieses wirren Balges schrubben. Ich vermute, dass die Person, die diese Haare fallen ließ, weiblich ist, einen zu dicken, schwarzen Lidstrich unter dem Auge trägt und mit der Kriegsbemalung eines vertrackten Lebens an der Supermarktkasse erscheint. Die Trägerin selber würde vielleicht sogar sagen ‚verkacktes Leben‘. Flirrten ihre Gedanken so irr, wie das Haar sich verweigerte? Was hatte sie bewogen, es in Gänze abzustoßen? Sich scheren zu lasen? Was war denn da noch übrig geblieben auf dem Kopf?
Löste dieses schwarze Gewölle fasziniertes Erstaunen aus, ertrug ich die zwei handvoll fünf Zentimeter langer, bordeaux-roter Strähnen in meinen Händen nur schwer. Dass bordeaux-rote Haare als Zierde eines glückliches Lebens Häupter bekränzen, kann ich kaum glauben. Neben den Frauen mit bordeaux-roten Haaren stehen oft fünfjährige Kinder, die zu dünn sind, rachitisch, anämisch blass und blond. Die Frauen haben Wasser unter der Haut und die Pall Mall Red Jumbo Zigarettenpackung in der Hand. Eine adäquate Bezeichnung für die aschfarbenen, sanften Haarflocken, die aussehen wie Trockenfutter für das geliebte Haustier, ist mir erst vor kurzem eingefallen. Die Flusen berühren mich, eben weil meine Vorstellungskraft nicht für eine Erklärung ausreicht, wie man zu solchen Haaren auf dem Kopf kommt. Ob die echt sind oder gefärbt? Leidet der Mensch an Tageslichtmangel? Ich nenne sie jetzt Meerschweinchenhaare und beziehe mich auf die Rassen Rosette, Curly und Angora. Aber selbst diese schwarzen, roten und aschfarbene Haarverwehungen vermögen noch die Erinnerung an Schneewittchen im Sarg zu wecken – weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz – und dann wuchsen mir die Haare im Traum am Kopf fest. Links schwarz, wie ein Irokese das bordeaux-rot über dem Scheitel und rechts ein Nest von Meerschweinchenhaar. Es gelang mir nicht zu schreien im Schlaf, aber ich wachte auf und versuchte schnellstmöglich zum Spiegel zu robben. Auf den paar Metern durchpflügte ich im Geist meine Liste der 120 Münsterländer Frisörinnen, um die Vertrauensperson herauszufiltern, die das Desaster auf dem Kopf wieder gut machen würde. Bereits mit der konkreten Sorge befasst, wie denn schwarz auf orange umzufärben sei, blickte ich in den Spiegel und erkannte mein Selbst.

Zeitensprünge katapulieren mich durch die Wochen, ich wandle durch novellenhafte Episoden und ländliche soap operas. Wahrscheinlich erhole ich mich nachts vom Strudel der Bilder und ich schlafe vermeintlich traumlos. Bis sich in einer der letzten Nächte meine Fingernägel zu sehr schmalen und mindestens 45cm langen Schaufeln bogen. Mein Körper schuf nach einem nicht ganz nach Wunsch verlaufenen II. Testlauf in Sache Haarballenpressen das noch fehlende Maschinenteil aus sich selbst heraus: meine Hände würden die Rolle des Greifers übernehmen, das ausgebreitete Haarmaterial anheben und in den Schlund der Maschine schaufeln….

Die Verwandlung meiner Erscheinung in einen Klon aus Struwelpeter und Edward mit den Scherenhänden hatte gar nichts beunruhigendes.

Ich stellte mir keine unnötigen Fragen in der Art von: „Wie krieg ich jetzt den Pullover über den Kopf?“. Ich war höchsten erstaunt, dass Fingernägel, die mir bisher ab 3 mm Länge eher lästig erschienen waren, so nützliche Werkzeuge sein konnten.
Und sie störten mich nicht mal im Schlaf….