Das Schweigen der Haare

Heute ist Schützenfest. Noch eines, möglicherweise das letzte im Reigen bereits durchfeierter Wochenendvergnügen im 4/4 Takt. Seit sieben Uhr früh werden nach Protokoll die Feierlichkeit zelebriert: Die Hauptstraße wird in Zweierreihen unter Trommelwirbel beschritten, dann kündigt Hufgeklapper gewichtige Gäste in der Kutsche an.

Seit gut drei Monaten bin ich in Schöppingen. Das Bildhaueratelier liegt an eben dieser Hauptstraße. Von meiner Schlafempore aus kann ich durchs Oberfenster die Federn auf den Dreispitzhüten wippen sehen und meinen Blick im Trichter der Tuba versenken. Das Tor zum Hof des Künstlerdorfes steht immer offen. Die Spaziergänger mit den Hunden blicken konsequent geradeaus, wenn sie – vorbei an den Fensterfronten unserer Ateliers – das Gelände durchqueren. Ich habe des Öfteren BewohnerInnen der kleinen Stadt oder der umliegenden Ortschaften zu einem spontanen Besuch eingeladen, natürlich auch FriseurInnen und deren Kundschaft. Des einen oder der anderen Haar wird schon unter Massen sein, die sich um mich türmen. Die Schwelle überwunden, hat keine_r. Bis heute: innerhalb von 90 Minuten wagten gleich drei Frauen den Grenzübertritt.


Der Zustand der ersten war akut verzweifelt: Fahrradtour, Picknick, sie musste dringlichst und unaufschiebbar aufs Clo. „Bitte“, sagte ich und wies ihr den Weg durch die Haarsäcke. Wohl noch der Erleichterung hingegeben, war sie noch nicht wieder erschienen, da stand schon eine zweite Dame auf der Schwelle. Gleiches Anliegen. Ich fand ihren Haarton – vermutlich kastanienbraun – zu einhellig braun für ihr Alter, den Schnitt, der die Haare fünf Zentimeter über der Schulter zum hängen verdammte wie ein frustriertes Selbstmordkollektiv, langweilig. Meine Nachbarn waren so gastfreundlich auf Grund wiederholter Nachfrage auch ihre Toilette unter Druck stehenden BesucherInnen zur Verfügung zu stellen. Die erste Dame verschwand adhoc, dematerialisierte sich wie ein Spuk, als ich ihre Wahrnehmung korrigierte und sie freundlich aufklärte, dass es sich bei dem mich umgebenden Material nicht um Tier-, sondern annähernd dreihundert Kilo Menschenhaar handeln würde, welches als Flaum inzwischen sogar den Boden der Toilette bestäubt. Die nächste Bedürftige überwand die Schwelle ohne Zögern und fragt geradezu forsch, wo sie denn hier gelandet sei. Ich frage zurück, ob ihr die Bedeutung eines Ateliers bekannt sei? Sie um Verständnis heischend: „Fahrradtour, Picknick, das Schützenfest und kein Clo!. Ich konterte: „Menschenhaar“. Ihr Leidensdruck war zu groß, sie trat durch den Plastikvorhang, verschwand in der Toilette. Demütig schlich sie davon. „Sehr interessant“, murmelte sie im Abgang. So richtig bedankt hat sich keine der dreien. Zu geschockt wohl vom Schweigen der Haare.

Meine Nachbarin Dohi und ich reihten uns am frühen Abend versöhnlich in den Zug der Polonaise der Feiernden ein – als Gegenbesuch sozusagen. Die Kapelle intonierte das Steigerlied. Erhitze Gesichter verglühten im Abendlicht. Glück auf!