Siebzehn Tage

Wenn siebzehn Tage gezählt sind, wird ein Mensch am Morgen des achtzehnten aufwachen und seine Haare, lang oder kurz, grau oder blond, lockig oder glatt, werden sein Haupt auf dem Kissen säumen. Hebt er seinen Kopf an, werden sie der Bewegung nicht folgen. Der Wind könnte sie wegblasen, sie sind wurzellos. Wo der Kopf des Menschen lag, wird eine Leerstelle auf dem Kissen sein.Der Mensch wusste, das das geschehen wird. Die Ärzte haben es ihm erklärt. Chemotherapie verhindert die Zellteilung. Wenn Krebszellen attackiert werden, ist Haarverlust einer der sichtbaren Kollateralschäden.
Wenn siebzehn Tage gezählt sind, fallen die Haare aus.

Ein Gebäude genügt längst nicht, um die Haare zu bergen, mit denen ab Tag achtzehn die Perücken-Manufaktur in Amsdorf* Leben auf dem Kopf des Menschen simulieren wird, bemüht, ihm zu helfen, sein Selbstbild zu bewahren, seine Schönheit zu retten, dem Tod entgegenzutreten und ihm dabei nicht Stirn, sondern Glatze zu bieten.

Haare, die bis zu den Hüften reichen für die Teenager, die an Leukämie erkrankt sind und ihre Liebhaber noch nicht kennen, weißes Haar, elegant und wohl frisiert, für denjenigen, der sich auf einen sorglosen Lebensabend gefreut hat – Haarteil um Haarteil harrt seiner Bestimmung auf ein zweites Leben. Geradezu ruhelos sammeln Vater und Söhne weiter, ergänzen die Haarpalette Nuance um Nuance. Die Spenden, die täglich angeliefert werden, füllen Postkörbe. Friseure übergeben abgeschnittenen Zöpfe. In einem gesonderten Raum lagern die kürzlich in Peru eingekauften Haare – sorgfältig belüftet, um ihre Feuchtigkeit zu regulieren. Die peruanischen Haare sind wertvoll – sie enthalten keine Chemikalien, weil den Menschen in dem Südamerikanischen Land allein das Geld zum Haare färben fehlt. Der abgeschnittene Zopf dient wohl dem puren Überleben. Einer davon ist grau.

Amsdorf feiert seine 700 Jahre. Alles historisch – der Bäcker beruft sich auf das Jahr 1842. Nur die Sonnenblende mit dem Schriftzug ‚Metzgerei‘ verspricht nicht, was sie hält: Leberwurst und Schinken sind einer Personalberatung gewichen: Schönes, fettes Leben weicht Weightwatcher Mentalität.
Im kühlen Kirchenraum liest sich ein Grüppchen älterer Frau- und Herrschaften aus der Pfingstnovene vor.

Die Familie der Perückenmacher arbeitet seit Jahrhunderten mit Menschenhaar. Die Ahnengalerie an den Wänden zeugt davon, die Chronik der Familie von der Feldschere bis zum Perückenmacher, ist auf der Website des Unternehmens nachzulesen.

historisches Werkstück

Über fünf Generationen wandelten sich die Barbiere zu Spezialisten für Haarersatz. Die Räumlichkeiten der-Manufaktur sind dennoch mit allen Insignien eines Frisiersalons ausgestattet: es wird geföhnt, auf Lockenwickler gedreht, mit Dampf gewellt, Fasson geschnitten. Das Geschwirre von Plaudereien und Geschwätzigkeiten hingegen fehlt: Die Plastikbüsten verharren still unter der Trockenhaube.
Die Gespräche mit den KundInnen finden abgetrennt in hellen Räumen statt. Den Menschen wird Schutz geboten. Treten sie hinaus, kann auf Terrassen und Balkonen das zweite Haar im Tageslicht betrachtet werden. In einem Showroom werden Tücher und Hüte, Mützen und Turbanen präsentiert. Geflochtene Kopfbedeckungen erinnern an Sommerurlaube an den Traumstränden der Imagination. Nur die Sonnencreme mit Schutzfaktor 30 sucht man vergeblich.

Die Offenbarung verbirgt sich vor dem öffentlichen Blick. Nach Farbnuancen sortiert, nach Längen gereiht, sorgfältig drapiert oder in Kisten geschichtet, lagert der Schatz der Manufaktur: ein Archiv an Haaren, eine Bibliothek der Identitäten, verteilt auf mehrere Häuser, in Räumen, verbunden durch ein Netz von Gängen.

Eine Novene ist ein an neun aufeinanderfolgenden Tagen gesprochenes Gebet. Der 4.6. war der fünfte Tag und der ‚Einheit in Vielfalt‘ gewidmet.
Ich höre den Damen und Herren in der Amsdorfer Kirche eine Weile zu. Ihre gelesenen Worte finden sich langsam zu Sätzen:

Man erfährt auf der persönlichen Ebene Intoleranz, Vorurteile und Isolation. In den gesellschaftlichen Verhältnissen zeigen sich Populismus, Extremismus, Ausgrenzung bis hin zur offenen Feindseligkeit – all dies sind Auswüchse einer falsch verstandenen Identität. Menschen mit einem solchen Identitätsgefühl fühlen sich von Unterschieden bedroht und suchen Sicherheit in erzwungener Vereinheitlichung. Gott hat uns am ersten Pfingstfest gezeigt, wie er mit der Vielfalt in der Welt umgehen will: Jeder konnte seine eigene Sprache und Kultur behalten, dennoch waren alle im Heiligen Geist geeint. Alle konnten die Apostel verstehen und eine glaubende Gemeinschaft bilden – ohne menschengemachte Einheitlichkeit. Die Fremden, die anders Denkenden oder Glaubenden, die Migranten, die Aussätzigen unserer Gesellschaft, stellen uns heute die Frage: Sind wir bereit, an die Möglichkeit einer geistgewirkten Einheit in der Vielfalt zu glauben?“1

Man kann an diesen Gott glauben oder an eine andere spirituelle Kraft, man kann die Philosophie befragen oder als Atheist jegliches Gottesbekenntnis ablehnen. Der Text lässt sich leicht dahingehend abändern. So gelesen scheinen mir seine Formulierungen humaner und radikaler als die gegenwärtige Migrationspolitik.

In meinem Auto lagern einhundert Kilo Haare, die den Qualitätsansprüchen Perückenmacher nicht genügen oder denen es schlicht an der notwendigen Haarlänge fehlt.

Angenommen die durchschnittlich gespendete Haarmenge beträgt fünfzig Gramm, wären es Haare von zweitausend Menschen.

Legden ist meine letzte Station an diesem Friseurtag. Ich besuche gerne den Haartreff Lammert und begegne den aus ehemaligen Sowjetrepubliken stammenden HaarschneiderInnen, das Haarteam Legden, mit seiner Dorfkundschaft und den Salon von Melanie Busert, deren Gedanken, nicht am Ortsausgangsschild in ihrem Fluge scheitern. Es ist später Nachmittag. Die Chefin des Geschäftes eilt in Gesellschaft ihrer kleinen Tochter und einer jungen Frau entlang der Hauptstraße Richtung Volksbank. Kiki verbringt als Aupair ein Jahr in dem 7000 -Seelen-Dorf. Die junge Frau kommt aus Simbabwe.

Das Trio fällt aus dem Bilderbogen westfälischer Dörfer und Kleinstädte, stürzt aus der Kulisse, einer wie von Gottfried Keller im 19.Jh. beschriebenen Welt

Alles bleibt ruhig. Noch beherrscht Einheit die Vielfalt.

1 Pfingstnovene 2019, s.30 |Herausgegeben von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa Kardinal-Döpfner-Haus, Domberg 27, 85354 Freising www.renovabis.de
* Name des Dorfes auf Wunsch geändert.